Meine erste offizielle Reise als junge 35-jährige Abgeordnete führte mich am 1. September 1989 nach Gdansk Danzig auf die Westerplatte . Genau 50 Jahre nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen, der den Ausbruch des 2. Weltkrieges markierte. Das EP hatte eine Delegation von fünf jungen Abgeordneten zu den Feierlichkeiten entsandt. Meine SPE Fraktion hatte Nora Saiidi, PS aus Frankreich, mit algerischen Wurzeln, Allan Donally , Labour Party aus Großbritannien, und Lissy Gröner, SPD aus Deutschland, ausgewählt. Vor mir stand ein schwerer Gang zur Westerplatte als junge Deutsche - Europäerin.
NIE WIEDER KRIEG - FREIHEIT IN FRIEDEN
1989 - war die Zeit des Aufbruchs! In ganz Osteuropa regte sich Widerstand gegen das Diktat der Sowjetunion. Die friedlichen Demonstrationen in der DDR in der Nikolai Kirche zogen von Woche zu Woche mehr Menschen auf die Straßen. In Polen brauste der Protest in den Werften und unter den Arbeitern in der Solidarnoc-Bewegung auf.
Unter den Augen der Welt wurde deshalb die Gedenkveranstaltung auch zur Freiheitsmanifestation der ArbeiterInnen. Polen erwartete ein Zeichen der Entschuldigung von Deutschland.
Aussöhnung mit Polen und Umbruch
Ich war tief beeindruckt von der schlichten Feier. Deutschland war vertreten mit Johannes Rau, damals Ministerpräsident von NRW. Der polnische Staatpräsident Wojciech Jaruzelski legte stocksteif
einen Kranz für die über 2000 Gefallenen des Überfalles nieder. Weltstars wie der Dirigent Leonard Bernstein und die Schauspielerin Luv Ullmann traten auf. Das deutsche Staatsoberhaupt Richard
von Weizäcker blieb derweil in Bonn und lauschte der Rede von Kanzler Kohl im Bundestag. Eine Versöhnunggeste an Polen ließ die Kohl-Regierung ungenutzt verstreichen.
Wir trafen mit Lech Walensa, dem Solidarnoc Führer und anderen VertreternInnen der Arbeiterschaft zusammen. Diesen Ansatz, immer auch das Gespräch mit oppositionellen Kräften zu suchen,
zeichnet das EP aus. Ob in Europa oder sonstwo auf der Welt, hat es mich von der Richtigkeit des europäischen Weges überzeugt.
Das Rahmenprogramm der Gedenkfeiern führte uns an die historischen Schauplätze des Angriffs Hitlers; ein bedrückendes Gefühl als Deutsche in der zweiten Generation. Wir trafen auch
Intellektuelle. Tief beeindruckte mich der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski. Er ist Autor des Buches "Die schöne Frau Seidenmann". In dem Roman schildert er den Aufstand in Warschau 1942. Mit
ihm diskutierten wir die Entwicklung Polens - fraglich war zu diesem Zeitpunkt noch, ob die Sowjetunion in den Demokratisierungsprozess eingreifen würde und wie sich General Jaruzelski und das
Militär verhalten würden. Politisch war die Situation äußerst angespannt und die Hoffnungen lagen auf der neuen Politik des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow. Ich wußte noch
nicht, dass ich ihn im Jahr darauf in Moskau treffen würde, und mit ihm seine Frau Raissa ...
REISEN OHNE GEPÄCK!
Zuerst war ich jedoch konfrontiert mit den Begleiterscheinungen der internationalen Arbeit! Auf dem Flug nach Warschau war mein Koffer abhanden gekommen - damals ja noch hinter dem EISERNER
VORHANG !
Wir, die offiziellen Gäste des polnischen Staates, waren untergebracht wir im Gästehaus des Seijm, des polnischen Parlamentes. Im Zimmer fand ich eine Riesen-Familientube Zahnpasta vor, leider
keine Zahnbürste. Ein Kollege, den das selbe Schicksal des verlorenen Koffers ereilt hatte, besorgte irgendwoher Zahnbürsten; es gab in der Mangelwirtschaft nur welche für Kinder! Das passte
wieder zur Familientube...
Zum Frühstück servierte man uns Specksuppe. Die Bedienung sah uns ungläubig an, als wir das zurückgehen ließen. Sie hatte Unverständnis in den Augen, wo fettes Fleisch so rar war
..
Unsere konservative Torry-Kollegin Ann McIntosh ließ dann auch jedes Interview beginnen mit den Worten: "They need MEAT in the shops..." und meinte, das aller Vordringlichste in Polen sei
Fleisch. Ja, da konnte Europa helfen, die Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Aber auch politische Sicherheit stand ganz oben auf unserer Agenda. Willy Brandt und Egon Bahr (SPD) hatten
mit ihrer neuen Ostpolitik den Weg dorthin geebnet.
Nora Saiidi war die jüngste MEP mit knapp 20 Jahren. Sie war in Frankreich gewählt worden als Vertreterin der Jungsozialisten, mit algerischen Wurzeln. Im Laufe der
Legislaturperiode bekam sie drei Kinder - welches Parlament kann solche Geschichten vorweisen? Labour-Kollege Allan Donelly bekleidete später ein Ministeramt in Tony Blairs Kabinett. Ich wurde
später dank meines frauenpolitischen Engagements stellvertretende Vorsitzende im Frauenausschuss des EP und gleichstellungspolitische Sprecherin der Sozialistischen Fraktion.
Der Vorwärts veröffentlichte 2007 ein Interview mit mir mit Bezug auf die Ereignisse auf der Westerplatte unter
www.vorwaerts.de/artikel_archiv/33162/visionen-brauchen-einen-langen-atem.html
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